Nautisches Lexikon
Details 3: Sonne und Mond erzeugen eine gemeinsame Gezeitenwelle
Modellsituation
- Der Mond läuft um die Erde, und die Erde um die Sonne. Wir betrachten die Situation
allerdings aus einem sonnenfesten System heraus, d. h. die Sonne bleibt
in den instruktiven Bildchen immer an der gleichen Stelle.
- Vereinfachung: Keine Deklination von Mond oder Sonne, d. h. Sonne und Mond stehen immer
über dem Äquator.
Ergebnisse
a) Gemeinsame Gezeitenwelle
- Auch das System Sonne-Erde erzeugt eine Gezeitenwelle. Allerdings sind
die Kräfte der Sonne nur etwa drei Siebtel so groß (knappe Hälfte) wie die des Mondes
(Sonne ist zwar viel schwerer als der Mond, aber auch viel weiter weg). Es gibt im System
Sonne-Erde ebenfalls HW und NW, knapp halb so stark wie durch den Mond, aber ansonsten
identisch.
- Überlagerung von zwei elliptischen Wasserhüllen ergibt eine resultierende
elliptische Wasserhülle, also nur einen "Rugby-Ball" mit zwei
HW-Bergen und einem NW-Ring, nicht etwa vier HW-Berge o. ä. Das folgt aus der Überlagerung
von Wellen gleicher Wellenlänge. Man darf auf keinen Fall mit Vektoraddition von
Kräften argumentieren, denn das würde dazu führen, daß maximale Verstärkung gerade
ungefähr beim 1. und beim letzten Viertel des Mondes auftritt. Das Gegenteil ist jedoch
der Fall, hier herrscht ja Nippzeit. Mit dem Überlagerungsargument macht man es sich viel
einfacher, allerdings braucht man etwas Sorgfalt:
Wir haben ja zwei unabhängige Gezeitenwellen mit jeweils der gleichen Wellenlänge des
halben Erdumfangs. Allerdings sind die Wellengeschwindigkeiten unterschiedlich, denn der
jeweilige Wellenberg befindet sich immer unterhalb des Gestirns (oder auf der Gegenseite),
und die Gestirne laufen unterschiedlich schnell um die Erde. Wegen dieser sich ständig
ändernden Phasenbeziehung der beiden Gezeitenwellen läuft die resultierende
Gezeitenwelle nicht mit konstanter Geschwindigkeit. Man darf die Wellengeschwindigkeiten
und die Wellenlängen nicht durcheinander werfen.
Das Ergebnis der Überlagerung sieht für zwei lineare Wellen so aus:
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Hinweis: Dieses Bild könnt Ihr auch als
"Zeichentrickfilm"
betrachten. Zwar hat es ein Ladevolumen von 100 kB, aber es
lohnt sich. |
Und für die "gekrümmten Wellen" auf der Erdkugel läßt sich das
Ganze gewissermaßen als Polardiagramm darstellen. Die Achsrichtung der
resultierenden blauen Wasserhülle wird zwar vom Mond dominiert, aber stets
durch die Sonne leicht von der Erde-Mond-Linie weg zur Sonne-Erde-Linie hin
gezogen. Man kann das anschaulich auch so interpretieren, daß ein
"Pseudogestirn" (sozusagen ein kombiniertes Sonne-Mond-Gestirn) um die Erde
läuft, allerdings "eiert" dieses Pseudogestirn ziemlich: Es läuft mal
schneller und mal langsamer und ist mal näher dran und mal weiter weg. Aber
genau so wirkt sich die Kombination von Sonne und Mond auf die Gezeiten aus.
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Hinweis: An diesem Bild kann man sich eine ganze Weile aufhalten. Wer MS Excel zur Verfügung
hat, das Ganze in Ruhe studieren möchte und auch Lust hat, an den Parametern ein bißchen
herumzudrehen, der kann sich hier eine
Excel-Datei mit dem kompletten Zeichentrickfilm herunterladen (gezippt 53 kB). Nicht erschrecken: Die Datei
enthält Makros, keine Viren. Mit den Makros kann man den Film direkt in
Excel ablaufen lassen. Feine Sache! |
b) Unregelmäßige Höhe der gemeinsamen Gezeitenwelle: Spring und Nipp
- Bei Vollmond und Neumond verstärken sich die elliptischen Wasserhüllen von Mond und
Sonne, weil ihre jeweiligen Wellenmaxima zusammenfallen: Es herrscht Springzeit.
- Beim 1. und letzten Viertel schwächen sich die elliptischen Wasserhüllen von Mond und
Sonne, weil das Wellenmaximum der einen mit dem Wellenminimum der anderen zusammenfällt.
Wären Sonne und Mond gleich stark, würden sich die Effekte aufheben. So aber steht die
resultierende (schwächer ausgeprägte) elliptische Wasserhülle mit ihrem Maximum genau
unter dem Mond: Es herrscht Nippzeit.
- Dazwischen gleitender Übergang: Mittzeit.
c) Unregelmäßiger Umlauf der gemeinsamen Gezeitenwelle: Priming und Lagging
Nur beim Eintritt von Spring- und Nippzeit steht das HW-Maximum genau unter dem Mond
(bei Springzeit natürlich auch unter der Sonne). Zu allen anderen Zeiten steht das
HW-Maximum zwischen Sonne und Mond, stets näher am Mond, da dieser
stärker wirkt. Dies führt von außen gesehen dazu, daß das HW-Maximum
während des ersten Viertels dem Mond ständig "hinterherhinkt". Kurz vor Nippzeit wird
dieses Hinterherhinken wieder aufgeholt, um zur Nippzeit wieder ganz verschwunden zu sein.
Diesen Effekt betrachten wir noch näher. Idealisierter Ablauf (für halben
Mondumlauf, Neumond bis Vollmond, danach geht alles von vorne los):
- Nach Eintritt der Springzeit (Neumond) bleibt das HW-Maximum durch den Sonneneinfluß
etwas hinter dem Mond zurück. Was von außen wie ein Hinterherhinken aussieht, äußert
sich von der Erde aus gesehen so, daß ein mit der Erde mitrotierender
Gezeitenpegel das Maximum der resultierenden Gezeitenwelle vor dem
nächsten Meridiandurchgang des Mondes trifft, HW tritt also früher ein
als nur nach dem Mond: Auf englisch Priming (einen deutschen Begriff
kenne ich nicht). Diese Zeitdifferenz ist knapp fünf Tage nach Springzeit am größten
und verschwindet in den verbleibenden knapp drei Tagen bis zur Nippzeit wieder (Halbmond,
d. h. 1. bzw. letztes Viertel), wenn das HW-Maximum den Mond wieder eingeholt hat.
- Nach Eintritt der Nippzeit eilt das HW-Maximum durch den Sonneneinfluß dem Mond etwas
voraus. Der Pegel auf der rotierenden Erde trifft das HW-Maximum also später
als den Meridiandurchgang des Mondes: Auf englisch Lagging. Diese
Zeitdifferenz ist knapp drei Tage nach Nippzeit am größten und verschwindet in den
verbleibenden knapp fünf Tagen bis zur Springzeit wieder (Neu-/Vollmond), wenn das
HW-Maximum wieder vom Mond eingeholt wurde.
d) Konstante Eintrittszeit von Springhochwasser und Nipphochwasser an einem
Ort: Hafenzeit
Hierzu müssen wir allerdings mal kurz überlegen, was eigentlich wahre
Ortszeit (WOZ) bedeutet: Es bedeutet die Uhrzeit an einem Ort nach dem wahren
Sonnenstand. Mittag ist immer dann, wenn die Sonne kulminiert, also genau über dem Kopf
steht in unserem vereinfachten Bild, allgemeiner gesprochen ihren höchsten Stand
erreicht.
- SpHW tritt theoretisch immer bei der Pegel-Ortszeit 1200 h bzw. 0000 h ein, da bei
Springzeit die resultierende elliptische Wasserhülle mit ihrem HW-Maximum genau unter der
Sonne und natürlich unter dem Mond steht (und wir die Springverspätung weglassen).
- NpHW tritt theoretisch immer bei der Pegel-Ortszeit 0600 h bzw. 1800 h ein, da bei
Nippzeit die resultierende elliptische Wasserhülle mit ihrem HW-Maximum genau unter dem
Mond steht, dieser aber 90° zur Sonne versetzt ist (und wir die Springverspätung
weglassen).
- Während der Mittzeit findet ein Übergang zwischen diesen Zeiten statt, der aber nicht
gleichmäßig ist (halbmonatliche Ungleichheit in der Zeit: Priming und Lagging).
- In der Realität kommt zu diesen idealen Ortszeiten noch die Springverspätung dazu,
diese ist aber für einen Ort konstant. Spring- und Nippzeit treten also an einem Ort
immer zur gleichen absoluten Ortszeit ein, zur sogenannten Hafenzeit.
Anders gesprochen: Die absolute Ortszeit des SpHW-Eintritts ist ein Maß
für die Gezeitenphase (Alter der Gezeit)! Dies bildet in den ATT die Basis für die
Berücksichtigung der monatlichen Ungleichheit in der Zeit am Anschlußort mit einem
Interpolationsverfahren, ausgehend von der absoluten HWZ am Bezugsort.
Anmerkung: Da die Erde auf einer Ellipse um die Sonne läuft und Mittag
immer dann ist, wenn die Sonne kulminiert, sind die Tage nach dem wahren Sonnenstand im
Jahresablauf unterschiedlich lang. Da das lästig ist, hat man die mittlere
Ortszeit (MOZ) erfunden und zur Grundlage der "normalen" Zeit gemacht.
Das aber wiederum bedeutet, daß die Sonne nicht mehr jeden Tag um 1200 h kulminiert, und
daraus folgt auch, daß die Hafenzeit nach der "normalen" Zeit im Jahresverlauf
um etwa plus/minus 15 Minuten schwankt. Wer sich also die Gezeitentafeln vornimmt und
beispielsweise alle Uhrzeiten des Mittagshochwassers z. B. am dritten Tag der Springzeit für
ein ganzes Jahr aufschreibt, der wird Schwankungen von etwa plus/minus 30 Minuten
feststellen.